Die Geschichte der Villa Wittmann
Einleitung
Bild: Die Villa Wittmann ca. 1905, kurz nach ihrem Bau
Archiv Bertsch
Von Dr. Alfred Hinderer
Einleitung
Auf Einladung von „Kultur am Stift“ besuchten Werner Bertsch und sein Sohn Matthias 2016 die Heimatstadt ihres Vorfahren, des Fabrikanten Erwin Wittmann. Er wohnte einst in seiner Villa am heutigen Calwer Bogen. Werner Bertsch brachte aus seinem Archiv ein Bild mit, das seinen Großvater im Park seiner Villa zeigt. Er zieht einen Leiterwagen, in dem seine beiden Töchter Margot und Doris sitzen.
Wie Erwin Wittmann nach Sindelfingen kam
Wie Erwin Wittmann nach Sindelfingen kam
1877 ging die Stuttgarter Firma Schmidt & Pfizenmayer Fabrikations-Geschäft in ”Shirtings, façonnierten Weisswaren, Futterstoffen etc.” mit Lager und Kontor in Stuttgart, Furthbachstraße 12 auf Paul Zweigart und Julius Sawitzki über. https//www.zweigart.de/ueber-uns/
1881 starb der Teilhaber Julius Sawitzki. Die Firma wurde danach von Paul Zweigart weitergeführt und nach Sindelfingen an die Wettbachstraße verlegt. 1902 starb auch Paul Zweigart, und seine Witwe Mina Zweigart holte Erwin Wittmann 1903 als Teilhaber und Geschäftsführer in die Jacquardweberei nach Sindelfingen. 1905 ließ er sich hier eine großbürgerliche Villa bauen.
Die Villa
Die Villa
Sie gehört zu den schönsten Privathäusern, die der damalige Stadtarchitekt Georg Bürkle in Sindelfingen entworfen hat.
https://zeitreise-bb.de/buerk/
Bild: Medaillon mit Horaz – Zitat an der Bachstraße
Archiv Philippscheck
An der Fassade zur Bachstraße ist ein Medaillon mit der Jahreszahl 1905 / 1906 angebracht, das mit einem Satz von Horaz in lateinischen Wörtern den realisierten Lebenswunsch von Erwin Wittmann ausdrückt:
„Hoc erat in votis modus agri non ita magnus, hortus ubi et tecto vicinus iugis aquae fons et paulum silvae super his foret.“
Übersetzt heißt das:
„Das war in meinen Gebeten: Ein Stück Land, nicht so groß, wo ein Garten wäre und neben dem Haus ein beständiger Wasserquell und obendrein ein wenig Wald.“
Erwin Wittmann hat sein Domizil mit Bedacht gewählt. Nicht zu weit von der Fabrik entfernt, die heute in den Fronäckern als letztes Textilunternehmen der damaligen Weberstadt Sindelfingen überlebt, aber damals an der Ecke Wettbach- und Calwer Straße stand.
Bild: Grundstücksplan von 1912, Stadt Sindelfingen, Bürgeramt Stadtentwicklung und Bauen
Sie war eine großbürgerliche Villa, die bei ihrem Bau nur von Feldern und Wiesen umgeben war und weit außerhalb der Stadt lag. Dazu gehörte ein weitläufiger Garten, der durch Zukäufe noch vergrößert wurde. Darin gab es ein großes Wasserbecken, das als Schwimmbad diente, ein Birkenwäldchen („Lustgarten“) mit einem Teepavillon im japanischen Stil, aber auch typischerweise einen Gemüsegarten und einen Acker, um den Aspekt eines „Landgutes“ umzusetzen, denn für die Familie Wittmann war es ihr „Tusculum“. Zur Villa gehörte auch ein Garagenhaus mit Chauffeurwohnung und ein Gärtnerhaus an der heutigen Lindenstraße.
Als 1912 die Bahnlinie von Böblingen nach Renningen gebaut wurde, nahm die Reichsbahn keine Rücksicht auf die Villa und schnitt die südwestliche Ecke des Gartens ab. Als später die Calwer und die Bachstraße gebaut wurden, wurden weitere Teile des östlichen Gartens weggeschnitten. Dann rückte das Wohngebiet an der Parkstraße immer weiter an die Villa heran. Der Pavillon, das Gärtnerhaus und das Garagenhaus blieben erhalten, während der überwiegende Teil ihres einst ausgedehnten Gartens verloren ging, dadurch auch die einst abgeschiedene Lage. Im nördlichen Gartenteil des Villengrundstücks wurde nach dem Krieg die Stadtgärtnerei angelegt und deren Gelände nach ihrer Verlagerung an die Burghalde mit Wohnhäusern bebaut. In der Villa richtete die Stadt die „Kindervilla Wittmann“ ein. Sie beherbergt eine Kindertagesstätte zur Betreuung von rund 50 Schützlingen.
Die Familie Erwin und Anita Wittmann
Die Familie Erwin und Anita Wittmann
Erwin Wittmann wurde am 13.8.1876 in Dörzbach an der Jagst geboren. Er wurde in Sindelfingen in den Gemeinderat gewählt, war auch mehrfach Landtagskandidat für die Deutsche Volkspartei und vermachte der Stadt zu seinen Lebenszeiten große Spendensummen.
Seine Ehefrau, Anita Wittmann, wurde mit dem Mädchennamen Frémery am 19.4.1882 in Buenos Aires geboren. Die Familie Frémery waren Hugenotten, die nach Deutschland ausgewandert waren. Ihr Onkel Max Frémery (1859 – 1932) war Mitbesitzer der Vereinigten Glanzstoff Fabriken, dem Weltmarktführer für die Produktion von Kunstseide und Kunstfasern. https://de.wikipedia.org/wiki/Vereinigte_Glanzstoff-Fabriken
Bild: Erwin Wittmann mit seinen Töchtern Margot und Doris im Park seiner Villa
Archiv Bertsch
Dem Ehepaar Wittmann wurden ein Sohn, Max, und zwei Töchter, Margot und Doris, geboren. Anita Wittmann nahm während des Ersten Weltkriegs zusätzlich zu ihren eigenen weitere Kinder in ihr Haus auf. Sie war 1918 Mitbegründerin des Evang. Volksbundes Württemberg. Sie war vor allem mit der Martinskirchengemeinde tief verwurzelt und stiftete nach dem Ersten Weltkrieg für die Martinskirche eine neue Glocke. Man kann sie - neben der ersten und bisher einzigen Ehrenbürgerin der Stadt, Mina Zweigart - eine weitere große Wohltäterin der Stadt nennen.
Schicksal in der NS-Zeit
Schicksal in der NS-Zeit
Max Wittmann, der 1906 geborene, älteste Sohn, war als Firmennachfolger vorgesehen. Er hatte in Paris die Jüdin Dola Ben Yehuda kennengelernt und sie 1931 in der Sindelfinger Villa geheiratet. Sie war in Jerusalem als jüngstes von 11 Kindern aufgewachsen. Ihr Vater, Elieser Ben Yehuda, war ein sehr bekannter jüdischer Gelehrter, aber kein religiöser Jude. Er hatte die 2000 Jahre alte hebräische Sprache als „Ivrit“ neu entwickelt, um den sprachlich gespaltenen europäischen Juden eine neue gemeinsame Sprache zu geben. Sie ist die Sprache der heutigen Israelis. Elieser Ben Yehuda starb im Jahr 1922.
Im aufkommenden Nationalsozialismus wurde Max aufgefordert, sich von Dola scheiden zu lassen, um die Firma weiter führen zu können. Das lehnte er ab. Als ab 1933 der Antisemitismus in Deutschland immer mächtiger wurde und die Firma als angeblich jüdischer Betrieb diffamiert wurde, wanderten Max und Dola nach Jerusalem aus. Sein Vater hatte vergeblich versucht, sie davon abzuhalten mit dem Hinweis, dass sie nicht alles Schlimme glauben sollten, was im Ausland erzählt wurde und dass alles nicht so schlimm werden würde. Die weitere politische Entwicklung hat ihnen aber Recht gegeben.
Anita Wittmann nahm sich am 25.12.1931 in der Villa das Leben nach schweren Depressionen und nachdem am Vortag ihre Schwiegermutter gestorben war.
Da Erwin Wittmann ab 1933 keinen Nachfolger mehr hatte, verkaufte er die Firma an die Fabrikanten Georgii und Keim, der aber bald verstarb. Nach dem Tod seiner Frau und der Auswanderung seines Sohnes und seiner Schwiegertochter und nach dem Weggang seiner Töchter war Erwin Wittmann alleine und einsam und zog sich völlig aus der Öffentlichkeit zurück. Er starb am 25.12.1936 in Sindelfingen. Möglicherweise hatte er vorher selbst noch seine Villa an die Stadt verkauft oder dies erfolgte erst nach seinem Tod. Das Familiengrab befindet sich auf dem Alten Friedhof in Sindelfingen.
Bild: Familiengrab Wittmann auf dem Alten Friedhof in Sindelfingen
Archiv Hinderer
Max und Dola Wittmann wanderten aus beruflichen Gründen von Jerusalem in die USA weiter, kamen später aber nach Jerusalem zurück. Sie sind dort auf dem internationalen Friedhof begraben. In Zusammenarbeit mit Matthias Bertsch hat die SZ/BZ im Jahr 2002, zum 100. Geburtstag von Dola Ben Yehuda Wittmann, die damals noch lebte, die Geschichte des Paares durch die Zeiten in Sindelfingen, Palästina, Amerika und Israel dokumentiert.
Die Villa Wittmann als Entbindungsheim
Die Villa Wittmann als Entbindungsheim
In die Villa zog die Entbindungsstaion des „Wilhelminenheims ein, das einst auf dem Gelände des heutigen Rathauses stand und zu dessen Bau und Unterhalt einst die in Sindelfingen geborene und nach Chicago ausgewanderte Wilhelmine („Minna“) Friederike Moscherosch Schmidt wiederholt sehr namhafte Beträge gestiftet hatte. Die Entbindungsstation ist bis spät in die fünfziger Jahre hinein als Geburtsort im Bewusstsein von Hunderten von Sindelfingern und auch Böblingern fest verankert. In den sechziger Jahren beherbergte das Gebäude die neu gegründete Jugendmusikschule Sindelfingen. Den Pavillon im Garten teilen sich heute die Interessengemeinschaft (IG) Kultur und die Stadtkapelle Sindelfingen.
Die Familie Margot und Walter Bertsch
Die Familie Margot und Walter Bertsch
Zur Biennale 2015 wurde der damalige künstlerische Leiter, Frank Martin Widmaier, auf das Thema Wittmann aufmerksam gemacht, um die Geschichte der Eheleute Wittmann aufzuarbeiten. Für die Initiative „Kultur am Stift“ und ihre Initiatoren Klaus Philippscheck und Horst Weber knüpfte er 2016 den Kontakt zu dem heute in Berlin lebenden Journalisten Matthias Bertsch, dem 1966 geborenen Urenkel von Erwin und Anita Wittmann. Er wusste lange nicht, dass seine Großmutter Margot eine Schwester von Max Wittmann war. Sie hatte den Verwaltungsbeamten Walter Bertsch aus Oppenweiler geheiratet. Als Wirtschaftsfachmann wurde er im „Dritten Reich“ Minister für Wirtschaft und Arbeit im „Protektorat Böhmen und Mähren“, wodurch sich eine enge Zusammenarbeit mit dem Stellvertretenden „Reichsprotektor“ Reinhard Heydrich ergab. Nach dem Krieg wurde er in die Tschechoslowakei überstellt und dort 1948 zu lebenslanger Haft in Brünn verurteilt, wo er 1952 starb. https://de.wikipedia.org/wiki/Walter_Bertsch
Der erwähnte Matthias Bertsch nahm als Austauschschüler 1984 Kontakt mit Max und Dola Wittmann in Jerusalem auf und besuchte sie dort. Das Schicksal der Familie im Dritten Reich wurde dabei aber nie besprochen.
Bild: Werner Bertsch (links) und sein Sohn Matthias Bertsch (rechts) beim
Besuch in Sindelfingen 2016 (mit Annerose Wald und Horst Weber)
Archiv Philippscheck
Matthias und sein Vater Werner kamen 2016 nach Sindelfingen zu Besuch, um die Villa ihres Großvaters und Urgroßvaters und das Familiengrab zu besuchen. In der Villa haben sie sich über die lebhaften Fragen der Kinder gefreut.
Die Firma Zweigart & Sawitzki nach dem Krieg
Die Firma Zweigart & Sawitzki nach dem Krieg
1949 traten Walter Georgii und 1950 Herbert Georgii als persönlich haftende Gesellschafter in die Firma Zweigart und Sawitzki ein. Das Gelände und die Gebäude an der Wettbachstraße wurden verkauft und die Fabrikation 1973 an die Fronäckerstraße verlegt. Herbert Georgii starb 2009 im Alter von 82 Jahren. 1982 traten Michael Georgii und 1992 Andreas Georgii in die Geschäftsleitung ein und führen sie seitdem weiter. Walter Georgii trat 2012 als Seniorchef in den Ruhestand.
In das ehemalige Firmengelände an der Calwer Straße zog später der Handelshof ein. Die Shedbauten wurden abgerissen und an ihrer Stelle das Einkaufszentrum „Kaufland“ erbaut.
Autoren
Autoren:
Dr. Alfred Hinderer, Heimatpfleger im Schwarzwaldverein Sindelfingen e.V.
in Zusammenarbeit mit Klaus Philippscheck, „Kultur am Stift“.